Medikamentenversuche an Heimkindern: Maria-Hilf (Allgemein)

Peter H. @, Bergisch Gladbach, Donnerstag, 11.09.2025, 11:21 (vor 4 Tagen) @ bleakhouse
bearbeitet von Peter H., Donnerstag, 11.09.2025, 19:02

Danke an bleakhouse für den Hinweis auf die Berichterstattung über das Thema Medikamentenversuche an Heimkindern. Ich versuche, den FAZ-Artikel vom 11.09.2025 "Psychopharmaka für ruhigen Betrieb" hier zu verlinken oder einzustellen, wenn die Rechte dazu geklärt sind. Gelegentlich mal wieder reinschauen.

Ein schreckliches Kapitel der Heimgeschichte.

Wir haben damals (1964/65) die Zerstörung eines Jungen aus unserer Gruppe miterleben müssen. Der Grund: Wenn er auf dem Schulweg über den Wochenmarkt ging, nahm er schon mal einen Apfel mit. Er war ein wenig einfältig, aber nicht bösartig. Die zänkische Marktfrau hat ihn eines Tages am Schlafittchen gepackt und bis zum Kinderheim geschleift. Wegen eines Apfels für damals höchstens 5 Pfennige. Das Ergebnis für diesen Jungen: Lobotomie (mutmaßlich) und starke Psychopharmaka. Hier die Erinnerung an Michael Sch.:

Ein Kinderschicksal – Michael Sch.

In unserer Gruppe in Sülz lebt Michael. Er ist unser Freund. Er ist immer gut gelaunt, niemals böse, aber er kann nicht gut denken. Seine Adoptiveltern haben ihn in das Heim gegeben, weil sie sich um ihr Hotel in Spanien kümmern müssen.

Wir müssen Michael manchmal vor stärkeren Jungen schützen. Sie finden es lustig, ihn zu zwingen, Unkraut zu essen. Ich frage ihn, warum er sich nicht wehrt. Michael antwortet: „Dann hauen sie mich nicht.“

Michael geht zur Sonderschule. Sein Schulweg führt über einen Platz, auf dem jede Woche ein Gemüse- und Obstmarkt stattfindet. Jede Woche gibt es deshalb großen Ärger und Aufregung. Michael nimmt sich auf dem Schulweg immer wieder einen Apfel von einem Obststand und isst ihn. Eines Tages zerrt die Marktfrau ihn wütend den gesamten Schulweg zurück zum Heim und fordert ihr Geld für den Apfel.

Ich frage Michael, warum er immer wieder einen Apfel nimmt. Michael sagt:
„Die Äpfel lächeln mich immer so lieb an. Dann muss ich einen nehmen.“
Ich überlege mit ihm einen Plan, wie er zur Schule gehen kann, ohne an dem Obststand vorbei zu kommen. Er will diesen anderen Weg gehen, aber es passiert wieder.

Schwester Johanna Magdalena (Gruppenleiterin) sagt, dass Michael für die Gruppe nicht mehr tragbar ist, weil er auf dem Markt stiehlt.

Wir kommen aus der Schule. Michael ist nicht mehr da. Wir fragen, wo er ist. Schwester Johanna Magdalena will es uns nicht sagen. Wir fragen jeden Tag nach Michael. Weil wir keine Ruhe lassen sagt sie uns nach einiger Zeit, dass er operiert werden musste. Ich erschrecke und habe große Angst um Michael. Ich frage die Schwester, warum er operiert werden musste. „Er war doch nicht krank!“ Sie verspricht, dass wir ihn besuchen dürfen, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen ist.

Nach etwa fünf Wochen dürfen wir Michael besuchen. Wir müssen mit dem Bus ins bergische Land fahren. Wir verpassen die Haltestelle in dem Ort, in dem er jetzt wohnt. Der Busfahrer ist freundlich und erlaubt uns, im Bus sitzen zu bleiben. Er muss erst bis zur Endhaltestelle fahren. Auf dem Rückweg passt er auf, dass wir im richtigen Ort aussteigen. Wir melden uns in dem Heim an und dürfen in die Gruppe gehen, in der Michael jetzt wohnt.

Wir kommen in einen großen Raum. An einem Tisch sitzen ungefähr 15-20 Kinder. Jedes Kind sitzt auf einem Holzstuhl. Der Tisch ist leer. Die Kinder bewegen sich nicht. Die Kinder sprechen nicht. Sie starren auf den leeren Tisch. An einer Ecke des Tisches steht eine Nonne, die die Kinder bewacht.

Ich suche Michael. Endlich sehe ich ihn. Er sitzt regungslos auf einem Stuhl. Er hat keine Schuhe und keine Strümpfe an. Ich kniee mich neben ihn und sage, „Hallo Michael“. Er starrt auf die Tischplatte. Ich sage, „Wir sind da. Wir besuchen dich.“ Er starrt auf die Tischplatte. Sein Gesicht bewegt sich nicht. Er lächelt nicht wie sonst, wenn ich mit ihm spreche. Die Nonne kommt und sagt zu mir, „Da kannst du reden. Da ist nichts drin.“ Ich protestiere, „Michael ist mein Freund!“ Sie verzieht nur das Gesicht und sagt, dass ich leise sein soll. Ich ziehe meine Schuhe und Strümpfe aus. Ich ziehe Michael meine Strümpfe an. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Ganz kurz, wie früher. Die Nonne lacht mich aus, „Die Socken wirft der gleich wieder weg.“ Sein Gesicht ist wieder stumm. Ich versuche ihn wieder zu wecken. Seine Augen sind wie tot.

Ich bin wütend und renne zu dem Büro, in dem wir uns anmelden mussten. Ich gehe zu der Nonne, die dort bestimmt und sage ihr, dass ich Michael wieder mit zu uns nach Köln nehme. Sie behauptet, dass Michael unter Kontrolle sein muss. Ich schimpfe sie laut an, „Ich nehme Michael mit. Bei uns lacht er. Hier ist er ja nur wie ein Stuhl!“ Die Nonne zieht die Augenbrauen hoch und wiederholt meine Worte „Wie ein Stuhl …?“ Dann ruft sie einen Mann, der dafür sorgt, dass wir das Heimgelände verlassen.

Nachsatz:
Ich habe Michael nach diesem Tag nie wiedergesehen. Als wir von diesem Besuch zurückkamen, hatte die Nonne aus dem Heim im Bergischen bereits in Sülz angerufen und sich über uns beschwert. Laut Aussage von Schwester Johanna Magdalena hat sie für uns ein Besuchsverbot ausgesprochen, weil wir Unruhe gestiftet hätten.

Zu Michael liegen inzwischen folgende Erkenntnisse vor:
 Daten aus den Unterlagen der städtischen Kinderheime:
o Michael Sch., geb. 18. März 1951
o Mutter: Euth K., geb. Sch.
o Vater: Jakob W.
o Aufnahme ins Kinderheim: 03.04.1951
o „Ausbuchung“ aus Köln: 24.03.1966
 Davon abweichend vom historischen Archiv der Stadt Köln:
o Aufnahme ins Kinderheim: 10.09.1958
o Ausbuchung aus Köln: 14.06.1965 mit „Verzug nach Donrath, Kinderdorf Hollenberg

Aus den oben geschilderten Ereignissen ergeben sich folgende Fragen:
1. Wurden Heimkinder der Universitätsklinik Köln für „Forschungen“ im Bereich der Lobotomie zugeführt?
2. Wurden Heimkinder für den Test von Psychopharmaka zur Verfügung gestellt?
3. Bestand zwischen der damaligen „Verwahranstalt“ im Bergischen Land und der Universitätsklinik Köln eine Kooperation zur Langzeitbeobachtung von lobotomierten Kindern?

--
HAL


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